WOW oder Was für eine Oase

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Die Freie Oase Gängeviertel ist glücklich. Sie freut sich darüber, dass die G20 die Stadt wieder verlassen haben und dass das Oasen-Konzept aufgegangen und auf wunderschöne Weise Realität geworden ist. Zehn Tage lang haben wir hier einen magischen Ort geschaffen, ein lebendiges Gegenbild zu dem von 20.000 Polizisten abgeschotteten Treffen der Mächtigen und Reichen, das – sieht man von der massiven Repression ab – ohne nennenswertes Ergebnis zu Ende gegangen ist. Alle Aktivist*innen des Gängeviertels und zahlreiche Unterstützer*innen waren in diesen Tagen fast rund um die Uhr auf den Beinen, Orgateam, Vokü, Aussteller, Live-Musiker, FSK, das Infopoint- und Presseteam und viele mehr haben Hand in Hand gearbeitet und sich prächtig ergänzt.

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1000 Gestalten bewegten sich in Zeitlupe durch die Stadt, 25.000 Menschen tanzten unter dem Motto „Lieber tanz ich als G20“, wir haben morgendliche Kundgebungen abgehalten, an erfolgreichen Blockaden teilgenommen und uns darüber gefreut, dass am Samstag fast 100.000 Menschen gemeinsam gegen die Politik der G20 auf die Straße gegangen sind. Unser Platz war eine wie von einer unsichtbaren Kuppel geschützte Oase des Friedens mitten im Ausnahmezustand. Sie stand stellvertretend für die Keimformen einer neuen Gesellschaftlichkeit, die in diesen Tagen sichtbar wurden – in den vielfältigen Protestaktionen, Demonstrationen, Raves, Blockaden und Performances, die ihren lauten und lebhaften Dissens auf der Straße zum Ausdruck gebracht haben, aber auch im Zusammenhalt der verschiedenen Zentren, die ein alternatives Netz über die Stadt gelegt haben, von der Roten Flora bis zur fux-Genossenschaft, vom Centro sociale bis zum Gängeviertel, vom Kölibri bis zur Hafenstraße, vom Gipfel für globale Solidarität auf Kampnagel bis zum alternativen Medienzentrum FC/MC im FC-St.-Pauli-Stadion. Großartig war auch die vielfältige Unterstützung aus der Zivilgesellschaft, die auf Camp- und Schlafverbot mit Übernachtungsangeboten und Kunst- und Kirchenasyl reagierte. In der solidarischen und freundschaftlichen Bezugnahme aufeinander, die jeden Versuch der Spaltung scheitern ließ, entstand eine Einheit in der Verschiedenheit, die es so noch nicht gegeben hat. Die Botschaft, die von diesen Tagen ausgehen werde, sagte Emily Laquer auf der Abschlusspressekonferenz im FC/MC, sei ein „Aufstand der Hoffnung“ – „der Mut der vielen und die Sehnsucht nach einer anderen Welt haben unsere Angst und unsere Ohnmacht gebrochen“.

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Es sind diese Bilder, die wir mit in die Zukunft nehmen möchten, Bilder dessen, was wir geschaffen haben, nicht die Bilder der alten Welt von Polizeiübergriffen oder der Freitagnacht im Schanzenviertel. Für uns und viele andere waren es in der Summe wundervolle Tage eines Summer of Resisdance, an die wir in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren anknüpfen werden, für das Recht auf Stadt, für Alles Allen. Auch die Freie Oase Gängeviertel wird es weiter geben – genau an dieser Stelle, als Blog des Gängeviertels, als laute Stimme in der Wüste Innenstadt. Man sollte schließlich erst aufhören, wenn es am schönsten ist.

Freie Oase Gängeviertel, 10. Juli 2017

 

Offene Wunden

Das war der Gipfel. Das Gefühl des Aufatmens, das Gefühl, dass es endlich vorbei ist, teilen wir wohl mit einem Großteil der Hamburger. Doch auch wenn die Proteste und Aktionen auf den Straßen und das unsägliche Treffen in den Messehallen nun abgeschlossen sind – die öffentliche Auseinandersetzung über das, was hier eigentlich passiert ist und was die Folgen daraus sein werden, beginnt jetzt. Heute Nachmittag war der Bundespräsident in der Schanze und besichtigte das „Krisengebiet“, in dem sich die Auseinandersetzungen der letzten Tage hauptsächlich zugetragen haben. Es wird nun viel von Gewalt gegen die Polizei und von zerstörten Autos und Geschäften gesprochen. Gebetsmühlenartig wird von der Politik der „tadellose Polizeieinsatz“ gelobt – Olaf Scholz schwang sich sogar dazu auf, die Beamten „Helden“ zu nennen.

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In den betroffenen Vierteln und bei den an den Protesten Beteiligten stellt sich die Lage freilich differenzierter dar. Denn auch die ständige Wiederholung macht die Lüge eines erfolgreichen und sauberen Polizeieinsatzes nicht wahrer, und viele Menschen, die die Situation vor Ort erlebt haben, beginnen erst jetzt, ihre Geschichten zu erzählen. Es sind Geschichten von Schlägen gegen Menschen, die einen Schlafplatz suchten, von willkürlichen Rechtsbrüchen und -beugungen durch einzelne Beamte und ganze Einheiten, von Pfeffersprayeinsätzen gegen auf dem Boden sitzende Menschen, von anlasslosen Wasserwerfereinsätzen und massiver, teilweise enthemmter Gewalt gegen friedliche Demonstranten oder unbeteiligte Zuschauer. Über die zahllosen Verletzten, die für ihren legitimen Protest einen hohen persönlichen Preis zahlen mussten, spricht momentan fast niemand. Dabei ist die massive Einschränkung von Grundrechten und ihre Durchsetzung mit maximaler Härte ein zentrales Merkmal dieses Gipfels.

Mindestens 14 bestätigte Schwerverletzte hat der G20 und die eingesetzte Polizei produziert, die Zahl der durch Schlagstöcke und Pfefferspray verwundeten Demonstranten ist unbekannt, dürfte aber den hohen dreistelligen, wenn nicht vierstelligen Bereich erreichen. Für uns als Projekt hat besonders das völlig unverhältnismäßige Vorgehen der Polizei gestern im Schanzenviertel – das man eigentlich nur noch als Strafaktion bezeichnen kann – persönliche und tragische Folgen gehabt. Kurz nachdem gestern Nacht das SEK, bewaffnet mit Schrotflinten und automatischen Waffen, in abgedunkelten Hubschraubern auf dem Heiligengeistfeld abgesetzt wurde und an der Feldstraße Position bezogen hatte, tanzten und sangen Menschen, die sich von dem martialischen Aufgebot nicht einschüchtern ließen am Arrivati-Park auf der Straße. Mit dabei: das mobile Soundsystem von „Alles Allen“, das in den vergangenen Tagen schon die verschiedensten Ecken der Stadt beschallt hatte. Plötzlich und ohne Vorwarnung wurde die Gruppe um das Soundsystem von einer Sondereinheit der Polizei angegriffen, über zwanzig Personen wurden zu Boden geprügelt, einige erlitten Kopfverletzungen, die Anlage wurde zerstört – und einer Anwesenden wurde das Bein gebrochen. All das geschah in einer friedlichen, fast ausgelassenen Situation ohne Anlass oder Ankündigung. Den kompletten Erfahrungsbericht findet ihr hier im Interview des FSK.

Die Einsätze der Polizei hätten und haben in den letzten Tagen immer wieder zu Schwerverletzten geführt, dass es keine Toten auf Hamburgs Straßen gegeben hat, ist nur Glückssache gewesen. Die Einsatzleitung und der Senat haben dieses Risiko billigend in Kauf genommen und den Gipfel rücksichtslos und mit schwerem, militärischem Gerät gegen die eigene Bevölkerung durchgesetzt. Dabei wurden Hunderte friedliche, unbeteiligte Menschen verletzt, daran ändert auch das Mantra eines tadellosen Einsatzes nichts. Die politische Verantwortung für dieses Vorgehen liegt bei denen, die diesen Gipfel in unsere Stadt gebracht haben und sich in der Elbphilharmonie bei Häppchen und Beethoven amüsiert haben: Olaf Scholz und Angela Merkel.

Lasst uns darüber reden!

Freie Oase Gängeviertel, 9. Juli 2017

100.000 gegen 20

Da sind sie also, die lange heraufbeschworenen Bilder enthemmter Gewalt in der Schanze. Bilder, die sich wie eine Decke über die Ereignisse der vergangenen Woche ausbreiten und die jede Diskussion über das Verhalten von Politik und Polizei und den Unsinn eines G20-Gipfels in einer Großstadt ersticken sollen. Der vielfältige und vielgestaltige Protest verschwindet hinter brennenden Müllbergen, begierig aufgetürmt von einem Teil der Medien, die auf nichts anderes gewartet haben. Wir wissen nicht, wer für die aggressiven Aktionen der vergangenen Nacht im Schanzenviertel verantwortlich ist. Wir wissen nur, von wem sie nicht ausgegangen sind – von unseren Freundinnen und Freunden aus der Roten Flora.

Doch es sind nicht diese Bilder, die den vielfältigen Widerstand dieser Tage geprägt haben. Gerade erst ist die Großdemo gegen G20 mit mindestens 100.000 Teilnehmern zu Ende gegangen. Eine Vielzahl von Initiativen brachte ihren Protest so kraftvoll auf die Straße, dass das Ende der Demo noch nicht einmal den Deichtorplatz verlassen hatte, als ihre Spitze bereits das Nobistor erreichte. Sie war der beeindruckende Schlussakkord einer ganzen Woche von Protesten.

Die blauen Schlümpfe - eine Ergebnis des Enmedio-Workshops im Gängeviertel

Die blauen Schlümpfe – eine Ergebnis des Enmedio-Workshops im Gängeviertel

Es waren tolle Aktionen, die in den vergangenen Tagen gelaufen sind: Alleine gestern zogen rund tausend Schüler*innen bildungsstreikend durch Hamburg, zahlreiche Blockaden verzögerten den Beginn des Gipfels, die Colorful Mass radelte durch die Stadt und im Arrivati-Park wurde die Urban Citizen Card ausgegeben und getanzt. Mit dem Ende des Gipfels versammeln sich jetzt Tausende in den angrenzenden Vierteln, um ihre zurückgewonnenen Freiheiten zu feiern.

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Seit über einer Woche ist das Gängeviertel nun die Oase der Gipfelproteste. In dieser Zeit haben wir Tausende Menschen auf weißem Sand und unter Palmen mit Essen, Informationen, Duschen und einem Raum zum Durchatmen versorgt. Unzählige Medienvertreter haben uns hier besucht, unser Kulturprogramm dokumentiert und teilweise sogar mit uns Gemüse geschnibbelt. Ihren Charakter als Ruhe- und Rückzugsraum hat die Oase in dieser Zeit nie verloren. Selbst als wir gestern während der Blockaden von der Polizei umzingelt wurden, trotzten unsere Gäste und Mitglieder mit einem spontanen Akustikkonzert dem Lärm der über dem Viertel kreisenden Hubschrauber. Andere Menschen drumherum schliefen, entspannten sich einfach nur oder kochten Essen.

Der offizielle Gipfel ist nun fast vorbei, und das ist gut so. Dieses Gefühl teilen wir wohl mit fast allen Menschen in dieser Stadt. Wir laden herzlich dazu ein, mit uns den letzten Abend in der Oase zu teilen.

Freie Oase Gängeviertel, 8. Juli 2017

The Final Countdown

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4 Uhr morgens. Gängeviertel, Kreuzung Caffamacherreihe / Valentinskamp. Immer mehr Menschen tanzen zu lauten Beats, ein silberner Block tanzt über der Menge. „Infrastructure to the People“ heißt die Veranstaltung, gefeiert werden die letzten Minuten vor Beginn der Allgemeinverfügung, die letzten Sekunden der Demokratie. Die Veranstaltung ist angemeldet, was die Polizei vergessen hat – und erst einmal in voller Montur anrückt. Auch der große schwarze, aufblasbare Block ist wieder da, langsam wandert er Richtung Laeiszhalle, und dort findet er ein brutales Ende.

Zuvor war der riesige Kubus am Ende der „Welcome to Hell“-Demo gesichtet worden, wo sich eine Gruppe von ALLESALLEN um ein mobiles Soundsystem versammelt hatte. Auf dem Fischmarkt hatte sich ab 16 Uhr eine auf 12.000 Menschen anwachsende bunte Menge aus vielen unterschiedlichen Spektren zur Kundgebung zusammengefunden. Sie hörten Reden von G20-Kritikern aus Mexiko, den USA und der Ukraine sowie Musik von den Goldenen Zitronen und Neonschwarz. Die Stimmung war fröhlich und ausgelassen, von Aggressivität keine Spur. Die ging kurze Zeit später von den vermummten Figuren der Polizei aus, die die Demonstration attackierten und gar nicht erst losgehen ließen. Theo Bruns von ALLESALLEN hat es miterlebt: „Die Eskalation ging eindeutig von der Polizei aus. Offensichtlich war die Genehmigung der Demonstration eine Finte. Das ist simulierte Demokratie. Angesichts der Gewalttätigkeit der Polizei, die eine Massenpanik in Kauf nahm, ist es nur der Besonnenheit der Protestierenden zu verdanken, dass es nicht noch mehr Verletzte gab.“ Das gilt auch für die große Zahl der spontanen Demonstrationen, die sich danach durch die Stadt bewegten.

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Heute ab 7 Uhr fanden unzählige Blockaden statt, auch rund um das Gängeviertel. Der Gipfel startete verspätet, u.a. war die Köhlbrandbrücke dicht. Pünktlich startete um 10 Uhr die Übertragung des „Archipels“, einer Plattform auf einem Kanal in Hammerbrook, wo die Themen des G20 auf links gedreht werden. Die Veranstaltung wird überall in die Stadt gesendet, bei uns im Raum „linksrechts“ und in der Entwurfswerkstatt. Auch die Bildungsstreik-Demo lief erfolgreich, dazu bald mehr. Immer mehr Menschen kommen in unsere Oase, die wir gern willkommen heißen. Es gibt gutes Essen und gute Gespräche. Die Polizei beließ es bislang bei Randbesuchen.

Wichtig ist jetzt: Geht raus auf die Straße! Und geht morgen zur großen Demo. Wir sehen uns am Samstag um 11 Uhr an den Deichtorhallen!

Freie Oase Gängeviertel, Tag 7, 7. Juli 2017

Alles Allen!

Seifenblasen fliegen durch den tiefliegenden Rauch der Nebelmaschinen, dahinter erahnt man am Heck des ersten Wagens die schwarze Diskokugel und den großen, goldenen Schriftzug: „Alles Allen!“ In der Kurve am Ende der Hafenstraße könnte der Kontrast kaum schärfer sein. Auf der einen Seite die tanzende, feiernde Masse eingedeckt mit Konfetti und Glitzer, mit goldenen Fahnen und bunten Kostümen, auf der anderen eine lange Reihe dunkelblauer Fahrzeuge der Bundespolizei, uniform in Reih und Glied, in denen man hinter den abgetönten Scheiben schemenhaft die Einsatzkräfte erkennen kann.

Was am heutigen Tag passieren wird, ist zu diesem Moment noch völlig unklar. Es scheint eigentlich unvorstellbar, dass es zu Auseinandersetzungen mit dieser fröhlich feiernden Menge kommen könnte, auf der anderen Seite hat offenkundige Friedlichkeit auch das Massen-Cornern gestern nicht vor Schlägen, Pfefferspray und Wasserwerfer-Einsatz geschützt. Als allerdings die Demospitze mit dem ersten von 12 Techno-Trucks das Heiligengeistfeld erreicht, wird klar, wie der Tag verlaufen wird. Als die Nachricht verkündet wird, dass der letzte Lauti noch nicht mal in die Reeperbahn eingebogen ist, bricht Jubel aus. 25.000 – 30.000 Menschen sind dem Aufruf zum „G20 wegbassen“ gefolgt.

Wir sind viele, sehr viele und wir haben die Stadt auf unserer Seite. Die Repressalien der letzten Tage gegen Camps und Übernachtungsgäste wurden von einem beispiellosen Aufstand der Zivilgesellschaft ausgehebelt – vom Schauspielhaus und dem FC St. Pauli, die ihre Tore geöffnet haben, von Kirchen, die Camps auf ihren Grundstücken dulden und von Tausenden Hamburgern, die ihre Wohnungen für unsere internationalen Gäste geöffnet haben. Wo Senat und Polizei gerade noch das Bild einer repressiven Polizeistadt gezeichnet haben, in der selbst Schlafen und Essen unter Strafe stehen, zeigt sich nun die Vision der so oft beschworenen liberalen Großstadt, die nicht nur Despoten und Autokraten offensteht, sondern auch Raum für Menschen hat, die sich für eine bessere Welt einsetzen. Die Menschen der Stadt trotzen der Angstkampagne, mit der Polizei und Politik seit Wochen die öffentliche Meinung bearbeiten.

Ausgelassen zieht der Rave durch die Stadt, passiert den Punkt wo noch vor 24 Stunden Wasserwerfer gegen friedlich cornernde Menschen eingesetzt wurden und wird an der Roten Flora mit Nebel und Pyrotechnik begrüßt. Als die Parade schließlich ihren Endpunkt an der Oase erreicht, ist die Stimmung am Kochen. Vom Dach des Gängeviertels wird die Parade mit gigantischen Glitzerwürfeln mit dem Slogan „Alles Allen“ begrüßt, dem Motto des heutigen Tages. Tausende tanzen zu wummernden Bässen auf der Straße und strömen ins Viertel. Die Gänsehaut, die einem in dieser Situation über den Rücken kriecht, ist ein Symptom des vagen Gefühls, dass eine andere Welt vielleicht tatsächlich möglich ist.

Freie Oase Gängeviertel, 6. Juli 2017

Aktionen, Aktionen, Aktionen – Die Straße gehört uns!

Tag 6 der Gipfelproteste war ein großartiges Ereignis voller Aktionen, die wir unmöglich vollständig wiedergeben können, und schon das ist die gute Nachricht Nummer eins: Das prophezeite „Festival der Demokratie“ wird eindeutig nicht von den grauen Herren der G20, des Senats und der Polizeiführung zelebriert, sondern findet seine Auferstehung auf den Straßen Hamburgs durch den vielfältigen Widerstand der Protestierenden aus aller Welt. Wir haben die Straße zurückerobert und wir setzen die Themen. Die einfallslose Abschreckungspolitik von Zero Tolerance hat versagt, die Drohkulisse wirkt nicht mehr. The People of Seattle and Genoa is back. Die Armada von Polizei und Sondereinheiten schüchtert uns nicht mehr ein. Wir sind auf der Straße und werden uns dort die nächsten Tage nicht mehr verdrängen lassen.

Unser kleiner Ausschnitt aus dem Kaleidoskop des widerständigen Tages 6 der Freien Oase Gängeviertel beginnt mit der Performance von 1000 Gestalten vor dem Chilehaus: Ein halbes Jahr Vorbereitung kulminierte hier in einer beeindruckenden Performance, die für immer eins der zentralen Gegenbilder zum G20 in Hamburg auf die Netzhaut gebrannt hat. 600 graue, beladene, sich mühsam durch die Straßen schleppende Gestalten wurden durch einen widerborstigen Aufschrei aus ihrer Lethargie erweckt und entledigten sich in einem kollektiven Akt der Befreiung ihrer Verkrustungen. Ein starkes Bild und eine Inspiration für die nächsten Tage. So sieht das jedenfalls Rita Kohel aus der Performance-Crew, die betont: „Ich bin megaerleichtert und glücklich, dass es so gut gelaufen ist. Aber es ist noch nicht vorbei, es geht ja weiter!“

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In einem Jugendtalk in der Fabrique im Gängeviertel tauschten sich derweil Aktivist*innen aus Griechenland, Brasilien, Spanien und Deutschland über ihre jeweiligen Projekte aus, redeten über ihre verschiedenen Praxen, ihre Politisierung und zu realisierenden Wünsche. Globalisierung von unten. Der Talk wurde live vom FSK übertragen. Am Abend sprach Doro Wiese am selben Ort über den Zusammenhang von Kunst und Politik. Und im MOM Art Space ist noch bis Samstag die – u.a. von der Kulturbehörde unterstützte – Kollektivausstellung AMPHITHEATREFFKNOTEN zu sehen, die im Kontext des G20 eine Antwort auf „auf diese aufgezwungene Nähe“ zu finden sucht. Zugleich reflektiert die Ausstellung, wie die Gängeviertel-Künstlerin Dagmar Rauwald erläutert, den „Widerspruch zwischen Kunst, die als gesellschaftlich relevante Arbeit immer auch Opposition ist, und finanzieller Abhängigkeit von den Strukturen, die sie eigentlich kritisiert“.

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Am Abend wurde schließlich in einem Live-Screening eine Veranstaltung von „Lesen ohne Atomstrom“ in der Laeiszhalle im Gängeviertel übertragen. Ein einzigartiges Ensemble – u.a. Auma Obama, Vandana Shiva, Renan Demirkan, Urban Priol, Günter Wallraff, Thomas Thieme, Mathieu Carrière, Konstantin Wecker und Ewald Lienen – las dort das Manifest „Empört euch!“ des französischen Résistance-Kämpfers Stéphane Hessel und lieferte damit die passende Parole für die kommenden Tage, die laut Mitorganisator Oliver Ness auf „allen Bühnen und Straßen“ Gestalt annehmen soll. Besonders beeindruckend war das Statement von Haidi Giuliani, deren Sohn Carlo beim G8-Treffen 2001 in Genua mit einem Kopfschuss von der Polizei getötet wurde. Damals war die Polizei gegen 300.000 protestierende Menschen brutal vorgegangen, Tausende wurden verletzt, Hunderte in Polizeigewahrsam gefoltert, 18 Mal schoss die Polizei scharf. G20 in eine Metropole wie Hamburg zu holen sei nach den Ereignissen von Genua unverantwortlich und eine „reine Machtdemonstration“, appellierte die Mutter in einem Offenen Brief an Bürgermeister Olaf Scholz. Eine Antwort hat sie bis heute nicht erhalten.

Dieser wundervolle Tag, der die Herzen höher schlagen lässt und allein dem Widerstand gehörte, kulminierte in der Nacht in dem Rave „G20 wegbassen“ von ALLESALLEN. Dazu morgen mehr in unserem nächsten Blogbericht. Nur so viel vorweg: Es war gigantisch!

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Freie Oase Gängeviertel, Tag 6, 5. Juli 2017

G20 – erste Ergebnisse

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Ein Ergebnis hat der G20-Gipfel bereits jetzt: Was gerade geschieht, wird die Hamburger Gerichte über Jahre beschäftigen. Wie kann es sein, dass elf Zelte in dem kleinen Gähler-Park so gefährlich sein sollen, dass dafür Hundertschaften Polizei friedliche Menschen mit Knüppeln und Pfefferspray verletzen müssen? In einem Park, der so klein ist, dass man wohl Mühe hätte, die sechs mit laufendem Motor im Hintergrund wartenden Wasserwerfer dort zu parken (was nur ein fiktives Beispiel ist,  steht für die Polizei die Grünflächenverordnung doch über dem Grundgesetz). Wie kann es sein, dass Proteste mit Wasserwerfern erstickt werden, die das strategisch-brutale Vorgehen in dem kleinen Park erst entflammt hat? Und die nur deswegen unangemeldet sind, weil sie spontan entstehen gegen die für niemanden nachvollziehbare Polizeilinie? Wie kann es sein, dass erst ein Großeinsatz nötig ist, damit die Polizei sich beruhigt? Das alles kann sein, weil es gewollt ist. Personell und strategisch. Und weil die Polizei eine eigene Agenda hat. Mit Demokratie und Rechtsstaat hat die Lage in Hamburg nichts mehr zu tun. Eigentlich also hat der Gipfel bereits zwei Ergebnisse: Erstens den Beweis, dass es möglich ist, 2017 in Deutschland einen rechtsfreien, alleine von der Polizei kontrollierten Raum zu errichten. Und zweitens, dass viele Menschen, junge und alte, in diesen Tagen ihren Glauben an Demokratie und Rechtsstaat (und, wenn vorhanden: an die Polizei) verlieren werden.

Hamburg wird kommenden Montag nicht mehr dieselbe Stadt sein, und das wird nicht an „8000 gewaltbereiten Linksextremen“ gelegen haben.

Hoffentlich werden die Verantwortlichen dafür zur Verantwortung gezogen.

Freie Oase Gängeviertel, Tag 6, 5. Juli 2017

Hedonistisches Massencornern gegen G20

Am Dienstagnachmittag und bis spät in die Nacht waren in Hamburgs Szenevierteln an allen Ecken und Enden Hunderte von Menschen versammelt, die sich die Straße nahmen, um Musik zu hören, zu feiern und die Stadt nicht der allgegenwärtigen Polizeipräsenz zu überlassen. Massencornern gegen G20 als eine Form von Reclaim the Streets und als Selbstbehauptung der Stadt von unten gegen den Belagerungszustand von oben. Mitinitiiert wurde die Aktion von ALLES ALLEN. Miko Hucko erklärte dazu auf der ersten Pressekonferenz im unabhängigen Mediencenter FC/MC im FC St.-Pauli-Stadion:

„ALLES ALLEN ist eine Bewegung, eine offene Struktur, die für alle ist und von allen benutzt werden darf. ALLES ALLEN will sich nicht nur gegen den G20 richten, sondern aus dieser Bewegung heraus damit anfangen, neue Welten zu bauen und Zukünfte zu öffnen. Und dabei die Freude und das Träumen nicht vergessen.“

In diesem Sinne versteht die Initiative auch das Hardcornern oder hedonistische Massencornern: „Cornern, das heißt Rumhängen und Lungern sind ausgesprochen gemeinschaftliche Beschäftigungen, die in der gegenwärtigen Weltordnung zu wenig betrieben werden: Zusammensein um des Zusammenseins willen. Ohne Leistungszwang, ohne Beschäftigungszwang und ohne dass dafür etwas bezahlt oder gekauft werden muss. Schließlich gehören die Straßen und Städte allen. Wir sollten uns nicht davon abhalten lassen, sie frei zu benutzen, um Situationen zu schaffen und Begegnungen zu ermöglichen.“

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Die Polizei sah das mal wieder anders und ging in der Nacht mit Wasserwerfern massiv gegen die fröhlich feiernden Menschen im Arrivati-Park vor, genauso wie gegen campende G20-Gegner*innen. Innensenator Andy Grote hatte dazu – in der ihm eigenen Mischung aus Irreführung und Realitätsverlust – erklärt, die Polizei werde „der Bevölkerung und friedlichen Demonstranten friedlich und zugewandt“ gegenübertreten.

Das Kirchen- und Kunstasyl für Menschen, die Übernachtungsmöglichkeiten suchen, weitet sich hingegen konsequenterweise weiter aus. Und Reclaim the Streets wird auch den heutigen Tag bestimmen, u.a. mit 1000 Gestalten um 13:30 Uhr am Chilehaus und dem Rave gegen G20, der um 18 Uhr an den Landungsbrücken startet, Abschluss am Gängeviertel. Wir freuen uns auf euch!

Freie Oase Gängeviertel, Tag 6, 5. Juli 2017

 

Recht auf Stadt: Urban Citizenship Card, New Hamburg, Asyl für die Camps

Im Rahmen einer Pressekonferenz in dem vom Hamburger Recht-auf-Stadt-Netzwerk ins Leben gerufenen Arrivati-Park am Neuen Pferdemarkt wurde heute die erste Urban Citizenship Card Deutschlands vorgestellt, in ersten Exemplaren als Prototyp verteilt und die Free and Solidarity City of Hamburg ausgerufen. Eine Idee ist damit in der Welt! Sie bezieht sich auf das Vorbild der ID NYC aus New York, die Bürgern unabhängig vom Aufenthaltsstatus den Zugang zu Bankkonten, städtischen Dienstleistungen, Weiterbildung etc. garantiert. Bisher Papierlose werden mit dieser Karte vor der Ingewahrsamnahme durch die Polizei geschützt. Das Konzept der Staatsangehörigkeit wird so zumindest teilweise durch eine eigenständige Politik auf städtischer Ebene abgelöst. Im Gegensatz zur Politik der G20, die Migration vor allem als Sicherheitsproblem behandelt, befördert die Idee von Urban Citizenship die Utopie einer solidarischen Weltgesellschaft, die von unten wächst. Niels Boeing vom RaS-Netzwerk Hamburg antwortete auf die Frage nach den Erfolgsaussichten der Initiative: „Manchmal muss man die Dinge einfach in die Hand nehmen, um den Horizont zu erweitern.“

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Conny Gunßer von Watch the Med Alarmphone verwies auf die 1.700 Toten im Mittelmeer, die die Abschottungsmaßnahmen der EU bereits in diesem Jahr gefordert haben, und forderte eine sichere und legale Passage für Flüchtlinge nach Europa.

Auch ein Vertreter von Sea Watch protestierte gegen die Migrationspolitik der G20, da sie die Kriminalisierung von Flucht und Seenotrettern beinhalte, und erklärte sich mit den Kämpfen gegen den G20-Gipfel in Hamburg solidarisch.

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Eine zweite Ausgabestelle der Urban Citizenship Card gab es am Nachmittag auf dem Hansaplatz in St. Georg, wo die Initiative New Hamburg eine Wunschfiliale eröffnet hatte. New Hamburg ist ein Kooperationsprojekt des Schauspielhauses und des Kirchenkreises Hamburg-Ost, das auch im Netzwerk Recht auf Stadt vertreten ist. Seit 2014 versucht die Initiative Stimmen von Menschen Geltung zu verschaffen, die sonst nicht gehört werden, so auf der Veddel, einem von Migrant*innen geprägten Stadtteil, wo früher mit der Ballinstadt Hamburgs größte Auswanderersiedlung stand. Hier leben heute Menschen aus 63 Nationen, in St. Georg aus mehr als 120.

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„Wir repräsentieren viel mehr als die G20“, erläutert Sina Schröppel von New Hamburg mit einem augenzwinkernden Lächeln. Und fügt hinzu: „Wir versuchen mit künstlerischen, politischen und theatralischen Mitteln die Themen, die aus den Stadtteilen kommen, zu transportieren.“ In der Wunschfiliale von New Hamburg können Migrant*innen ihren Forderungen und Bedürfnissen Ausdruck verleihen.

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Am Abend startete dann das FC/MC, ein unabhängiges Medienzentrum für alternative Medienberichterstattung, im Ballsaal des St-Pauli-Stadions mit seiner ersten Pressekonferenz, die ab heute täglich während des Gipfels im Livestream bei fcmc.tv ausgestrahlt wird. Ein großartiges Projekt, das von 300 Medienaktivist*innen ehrenamtlich auf die Beine gestellt wurde. Danke auch an den FC St. Pauli! We’ll never walk alone!

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Auch in der Frage der Camps gibt es Neuigkeiten: Das von der Polizei drangsalierte Camp auf Entenwerder wurde von den Campern aufgelöst. Dafür öffneten Kirchen und Kulturinstitutionen wie das Schauspielhaus oder die Kulturkirche in Altona ihre Flächen für die G20-Kritiker*innen, denen das Recht auf Schlaf genommen wurde. Kirchen- und Kulturasyl at its best! Die Zivilgesellschaft funktioniert und zeigt Courage. Auch dafür danke!!

Insgesamt ein guter Tag für die Gipfelgegner*innen. Gegen die stumpfe Haltung des Senats, der außer Repression und Sirenengeheul nichts zu bieten hat, setzte sich die Vielfalt und Kreativität des Widerstands durch. Medial sind die letzten Tage für Polizeiführung und politisch Verantwortliche sowieso ein GAU. Für ihren Versuch, jeden Widerstand im Keim zu ersticken, werden sie politisch und moralisch einen hohen Preis zu zahlen haben. Lasst euch nicht einschüchtern, kommt nach Hamburg und geht mit uns auf die Straße.

Morgen geht’s weiter mit 1000 Gestalten und dem Rave gegen G20 ab 18 Uhr Landungsbrücken. Zum Massencornern folgt ein eigener Blog-Text.

Freie Oase Gängeviertel, Tag 5, 4. Juli 2017

Grenzenlose Bewegungsfreiheit abgesagt

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Am Montag, den 3. Juli, wurde die Klage des Gängeviertels auf Durchführung der Kundgebung „Für grenzenlose Bewegungsfreiheit“ vorm Oberverwaltungsgericht abgewiesen. Die Dauerkundgebung im Innenhof der Schier’s Passage unterliegt damit weiterhin der Allgemeinverfügung, die mit 38km² die größte Versammlungsverbotszone der Stadtgeschichte festlegt. Somit wäre eine Durchführung der Veranstaltung nur von Dienstagabend 18 Uhr bis Freitagmorgen 5.59 Uhr möglich gewesen. Zu den zentralen Zeiten des Gipfels wäre die Kundgebung damit unterbunden worden. „Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit ist für uns unteilbar, und wir werden auch unsere Kundgebung nicht in genehme und unangenehme Teile spalten lassen“, sagt die Initiative „Komm in die Gänge“.

Da der bisherige Umgang mit angemeldeten Kundgebungen und Camps auch für diese Versammlung nichts Gutes erwarten ließ, haben wir uns entschieden die Kundgebung abzusagen. Denn repressive Vorkontrollen und Durchsuchungen werden wir unseren Besuchern nicht zumuten. Stattdessen konzentrieren wir unsere Kräfte lieber auf unser kulturelles Programm und unsere Rolle als Gastgeber –  die jetzt dringender denn je nötig ist.

Unser normales kulturelles und soziales Programm ist davon selbstverständlich nicht betroffen, da uns auch weiterhin von Innenbehörde und Polizei Zugänglichkeit garantiert wird. Heute Abend wird beispielsweise die Ausstellung „Amphitheatreffknoten“ im MOM-Artspace der Fabrique gemeinsam mit der Behörde für Kultur und Medien eröffnet werden, und am Mittwoch findet das Live-Streaming von „Lesen ohne Atomstrom“ aus der Laeiszhalle wie geplant statt.

Freie Oase Gängeviertel, Tag 5, 4. Juli 2017